Zwischen freiem Willen und biologischem Determinismus

Die in diesem Beitrag behandelte Fragestellung lautet:

Sind Alkoholabhängige biologisch darauf festgelegt, eine Genesung von ihrer Alkoholabhängigkeit nur durch lebenslange Alkoholabstinenz erzielen zu können?
Oder ist es ihnen möglich, durch Willenskraft und Selbstkontrolle zu einem symptomfreien, nicht-abhängigen Alkoholkonsum zu gelangen?

In diesen Fragen schlägt sich der Widerstreit fundamentaler Sichtweisen über Alkoholismus nieder, nämlich die des biologischen und des sozialwissenschaftlich ausgerichteten Paradigmas (vgl. Körkel 1995).
Mit den folgenden Ausführungen sollen wissenschaftlich begründete Antworten auf die zuvor aufgeworfenen Fragen gegeben werden. Der rote Faden sieht dabei wie folgt aus: Zunächst (1.) wird entfaltet, was unter "Alkoholismus als (unverrückbare?) Krankheit" verstanden wird. Sodann (2.) wird der Ansatz des kontrollierten Trinkens erläutert. Drittens wird auf die Implikationen des Willensfreiheitkonzeptes für die Suchtbehandlung eingegangen, bevor abschließend (4.) ein Resümee der in den Abschnitten 1-3 angestellten Überlegungen gezogen wird.

1. Alkoholismus als Krankheit

Die Sichtweise, dass Alkoholabhängigen eine Genesung von ihrer Alkoholabhängigkeit nur durch völligen Alkoholverzicht möglich sei, wird meist durch den Hinweis "begründet", dass Alkoholismus eine Krankheit sei und eben "krankheitshalber" ein kontrollierter Alkoholkonsum nicht möglich wäre. Was aber macht diese ominöse "Krankheit" aus, dass eine Rückkehr zu einem reduzierten, kontrollierten Konsummuster nicht möglich sein soll?
Die Suche nach einer Antwort ist nicht leicht - und das Ergebnis überrascht. Bei genauerem Besehen existieren nämlich - meist unbemerkt - mindestens drei verschiedene Verständnisse von "Alkoholismus als Krankheit" - mit unterschiedlichen Implikationen in Bezug auf die Möglichkeit des kontrollierten Trinkens. Um diese drei Ansätze geht es im Folgenden.

1.1 Alkoholismus als Krankheit gemäß ICD-10

In den psychiatrischen Diagnose- und Klassifikationssystemen ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt 1991) und DSM-IV (Saß, Wittchen & Zandig 1996) werden der Missbrauch und die Abhängigkeit von Alkohol als Krankheitskategorien aufgeführt. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass nach vorherrschender sozialer Konvention bestimmte Umgangsweisen mit Alkohol (z.B. mehr trinken, als man beabsichtigt hatte) und deren Folgen (z.B. Vernachlässigung sozialer Verpflichtungen) eine behandlungsbedürftige Abweichung vom Zustand des "normalen Funktionierens" darstellen ("dis-ease"). Dann - und nur dann - ist offiziell und krankenversicherungsrechtlich verbindlich von "Alkoholkrankheit" zu sprechen.
Für die Themenstellung des kontrollierten Trinkens ist nun von Bedeutung, dass im ICD/DSM keine Aussagen darüber gemacht werden,

  • worin die Ursachen der genannten Verhaltensabweichung zu sehen sind, d.h. ob Alkoholismus biologisch, psychisch und/oder sozial bedingt ist
  • welche Varianten der Genesung von der "Krankheit" möglich sind (Abstinenz, "normales Trinken", kontrolliertes Trinken etc.). Es wird folglich die Rückkehr zu einem nicht mehr krankheitswertigen Alkoholkonsum nicht ausgeschlossen.
Diese zuvor genannten beiden Implikationen gelten übrigens auch für diverse Definitionen von Sucht, wie etwa diejenige von Wanke (1985), wonach Sucht "ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand [ist]. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet" (S. 20).
Resümee: Die offiziellen, der Finanzierung von Suchtbehandlung rechtlich zugrunde liegenden Diagnoseschemata von Alkoholismus schließen die Möglichkeit des kontrollierten Trinkens bei Alkoholabhängigen/-missbrauchern nicht aus.

1.2 Alkoholismus als Krankheit gemäß dem dispositionellen Krankheitsmodell

Das dispositionelle Krankheitsmodell von Alkoholismus geht auf die Arbeiten von Jellinek (1960) zurück. Dieser hat sich hinsichtlich der Frage, was das "Wesen" von Alkoholabhängigkeit sei, geäußert - allerdings wesentlich vorsichtiger als diejenigen, die sein Konzept popularisiert haben, wie etwa Milam und Ketcham (1983; vgl. Miller 1993). Diese auch heute noch in der professionellen Suchtbehandlung, Selbsthilfegruppen und der Bevölkerung weit verbreitete "dispositionelle Sichtweise entstand nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus, sondern aus einer einzigartigen Verkettung moralischer, politischer, sozialer und ökonomischer Kräfte der amerikanischen Gesellschaft und ist dem Konzept der Trunksucht des 19. Jahrhunderts entliehen." (Miller 1993, S. 135).

Was besagt nun das "dispositionelle Krankheitsmodell"? Gemäß dem dispositionellen Krankheitsmodell sind Alkoholabhängige Menschen, die - biologisch bedingt - nach Beginn des Alkoholkonsums die Kontrolle über das weitere Trinken verlieren und nur durch Verzicht auf jeglichen Alkoholkonsum ihre Erkrankung zum Stillstand bringen können. Kontrolliertes Trinken ist, diesem Modell entsprechend, Alkoholabhängigen somit nicht möglich.
Eine Analyse der vier Grundannahmen des dispositionellen Krankheitsmodells zeigt die kritischen Punkte dieses Denkansatzes auf (vgl. Fingarette 1988; Körkel 1995; Miller 1993; Schacke 1991):

1. Annahme: Alkoholabhängige unterscheiden sich qualitativ (und nicht nur quantitativ) von Nicht-Abhängen: Man ist Alkoholiker oder nicht - genau so wie man schwanger ist oder nicht.
Was ist von dieser Annahme zu halten? Annahme 1 ist nicht nur empirisch nicht belegt, sondern durch vielfältige Befunde widerlegt. Ein Beispiel: Mit der Menge des konsumierten Alkohols und der Anzahl negativer Konsumfolgen nehmen die Krankheitssymptome (z.B. erfasst nach DSM-IV) linear (!) zu - es gibt also keinen ersichtlichen qualitativen Sprung beim Erreichen der Symptomanzahl (nämlich drei), ab der man von "Alkoholabhängigkeit" spricht (Miller 1996; vgl. Abbildung 1 sowie Kruse, Körkel & Schmalz 2001, S. 46).

Abbildung 1

Nach heutigem Erkenntnisstand ist es sinnvoll, die Menge des konsumierten Alkohols, das Verlangen nach Alkohol, die Konsumfolgen (somatischer, psychischer, sozialer, ökonomischer und anderer Art) u.a.m. als linear ausgeprägte Phänomene zu betrachten. Der unterstellte "qualitative Sprung" von der Nicht-Abhängigkeit in die Abhängigkeit ist ein Mythos.

2. Annahme: Alkoholabhängige "haben den Kontrollverlust", Nicht-Abhängige haben ihn nicht.
Auch diese Entweder-oder-Annahme ist weit verbreitet. Was aber ist unter "Kontrollverlust" zu verstehen? Was völlig einfach klingt und klar zu sein scheint, ist es gar nicht: Der Begriff "Kontrollverlust" wird nämlich äußerst vage und meist vorwissenschaftlich-umgangssprachlich benutzt. Bei näherem Besehen gibt es mindestens zwei Sichtweisen von Kontrollverlust (vgl. Heather & Robertson, 1983):
  • Nach einer ersten Verständnisvariante zeigt sich Kontrollverlust darin, dass nach einem ersten zugeführten Quantum Alkohol die Person weitertrinken muss, bis kein Alkohol mehr verfügbar ist bzw. beschafft bzw. wegen zu starker Intoxikation nicht mehr getrunken werden kann. Diese "harte" oder auch "naive Theorie des Kontrollverlusts" ist mit der absoluten Mehrzahl der Konsummuster Alkoholabhängiger nicht vereinbar (ebd.).
  • Nach einer zweiten Theorie des Kontrollverlusts, der wahrscheinlichkeitstheoretischen, gibt es nicht "den" Kontrollverlust, sondern nur ein Mehr oder Weniger an Kontrollaufgabe ("impaired control"; Heather, Tebbutt, Mattick & Zamir, 1993). Mit dieser Sichtweise, die bei der Mehrzahl der Vertreter des Kontrollverlust-Paradigmas vorzuherrschen scheint (wenn auch sehr vage und meist in nicht klar formulierter Form), hat man aber das dispositionelle Krankheitsdenken bereits verlassen - denn es wird die Entweder-Oder-Position ("Alkoholiker erleben den Kontrollverlust, Nichtalkoholiker erleben ihn nicht") zugunsten eines kontinuierlich ausgeprägten Merkmals "Kontrolleinbuße" aufgegeben.
3. Annahme: Die wahren Ursachen des Alkoholkonsums sind bio-logische Abweichungen vom Normalzustand (genetische Ausstattung, Metabolismus) Psychologische, soziale u.a. Faktoren spielen nur für die Ausformung des Alkoholismus eine Rolle.
Vielfältige Studien sprechen auch gegen die Richtigkeit dieser dritten Grundannahme des dispositionellen Alkoholismusdenkens:
  • So zeigen zum Beispiel die diversen "Alkohol-Geschmack-Experimente" (von Marlatt und anderen; vgl. Marlatt & Rohsenow 1980), dass nicht der alkoholische Inhalt eines Getränkes bestimmt, wie viel Alkoholabhängige davon trinken, sondern die Erwartung (= Kognition), dass sich Alkohol in dem Getränk befindet und welche Wirkungen davon zu erwarten sind.
  • Gemäß dem "state-of-the-art" der epidemiologischen Suchtforschung nimmt der Preis alkoholischer Getränke wesentlichen Einfluss auf das Konsumniveau und die Anzahl der Alkoholabhängigen in einer Gesellschaft - ein Beleg für die Bedeutung sozialer Faktoren in der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Abhängigkeit (vgl. z.B. Rehm, Room, Graham, Monteiro, Gmel & Sempos 2003).
4. Annahme: Alkoholismus ist irreversibel: "Wir wissen, dass kein Alkoholiker jemals wieder kontrolliert trinken kann" (Anonyme Alkoholiker 1992, S. 35). Die Krankheit kann nur durch Abstinenz zum Stillstand gebracht, aber nicht geheilt werden. Jeglicher Alkoholkonsum reaktiviert die manifeste Erkrankung.
Diese Annahme der Irreversibilität von Alkoholismus wird durch die Forschung vielfältig widerlegt:

  • Nacherhebungsstudien nach abstinenzorientierter Behandlung zeigen, dass
    • ein Teil der behandelten Alkoholabhängigen zu einem symptomfreien, sozial integrierten, kontrollierten Alkoholkonsum übergeht (in den USA zwischen 5 und 30%; Miller 1983; Miller, Walters & Bennett 2001; Rosenberg 1993)
    • und zwar zum Teil über Nacherhebungszeiträume von 16-20 Jahren und mehr (Schottland: McCabe 1986; Schweden: Nordström & Berglund 1987)
    • und dies trotz fehlender Kompetenzvermittlung für dieses Ziel bzw. striktem Abraten von diesem Ziel.
  • Auch Studien zu "self-change", das heißt zum "Herauswachsen aus der Sucht" ohne professionelle Hilfe, zeigen, dass einem Teil der Alkoholabhängigen eine Rückkehr zu einem nicht mehr krankheitswertigen Alkoholkonsum möglich ist (Übersicht: Klingemann et al. 2001; Beispiel: King & Tucker 2000). Sobell, Ellingstad und Sobell (2000) resümieren den Forschungsstand wie folgt: "Stabile Veränderungen (über mindestens 2 Jahre hinweg) aus der Alkoholabhängigkeit heraus hin zum mäßigen Alkoholkonsum sind ein übliches Ergebnis bei Genesungsprozessen in der ‚natürlichen Umwelt'".
Zum dispositionellen Krankheitsmodell von Alkoholismus bleibt zu resümieren:
Nach diesem Modell ist es Alkoholabhängigen aufgrund ihrer biologischen Determiniertheit zum Kontrollverlusttrinken nicht möglich, über längere Zeit kontrollierten Alkoholkonsum aufrecht zu erhalten. Dieses Modell hält jedoch theoretischen und empirischen Überprüfungen nicht stand: "Die zentralen Annahmen des Modells stehen ... in Widerspruch zu einem großen Fundus wissenschaftlicher Forschung. [...] Dieses Modell ist schlichtweg inadäquat, um Alkoholprobleme in der Gesellschaft zu beschreiben, zu verstehen und auf sie einzuwirken" (Miller 1993, S. 133 und 135).

1.3 Alkoholismus als Krankheit: Das "Suchtgedächtnis"

Eine gewisse Popularität hat in den letzten 10 Jahren der Begriff des "Suchtgedächtnisses" (Böning 1994, 1996, 2000) gefunden. Seine Vertreter führen bei der Frage, ob Alkoholabhängigen kontrolliertes Trinken möglich sei, deren Limitierungen durch ein unterstelltes "Suchtgedächtnis" ins Feld und unterfüttern ihre Aussagen durch reichlich neurobiologisches Vokabular. Die Kernaussage ist: Süchtige besitzen aus biologischen Gründen nicht die Freiheit, zu einem symptomfreien, normalen oder kontrollierten Alkoholkonsum übergehen zu können. "Das Suchtgedächtnis" erscheint wie die "beinharte Widerlegung" (Bieri 2005, S. 124) der Möglichkeit kontrollierten Trinkens.

Allerdings: Antworten auf die Fragen, was denn "Suchtgedächtnis" bedeuten und weshalb kontrolliertes Trinken durch ein "Suchtgedächtnis" nicht möglich sein solle, bleiben in der Regel äußerst vage und andeutungsreich.

Schauen wir uns die Sache genauer an. Was muss von einem Konstrukt wie dem des Suchtgedächtnisses - also einer "Sache", die man nicht direkt beobachten, sondern nur erschließen kann - verlangt werden, dass es zu wissenschaftlich haltbaren Aussagen gereicht? Mindestens fünferlei: (1) Eine klare Definition und (2) sich daran anschließende Operationalisierung des Konstrukts, (3) seine Messung, (4) die Überprüfung seines Vorhersagewertes und (5) theoretisch begründete Aussagen zu seiner Veränderbarkeit. Zu diesen fünf Aspekten nun im Einzelnen.

1. Was soll "Suchtgedächtnis" bedeuten? (Definition)
In den Veröffentlichungen über "Suchtgedächtnis" findet man eine große Zahl von Umschreibungen oder Definitionen von "Suchtgedächtnis" mit erheblicher begrifflicher Unschärfe. Eine kleine Auswahl:

  • Suchtgedächtnis ist die "biologisch engrammierte" Grundlage der Sucht und der "Schrittmacher eines späteren Rückfalls" (Böning 1994, S. 244).
  • "Mit ‚Suchtgedächtnis' wird nicht nur ... das Lernen der Sucht, sondern vor allem ... das Persistieren ... der Affinität gegenüber der Droge über eine Abstinenzphase hinaus bezeichnet (Böning 1994)" (Tretter 2000, S. 276).
  • Suchtgedächtnis ist ein "von der ‚molekularen Trägerebene' über die ‚neuronale Musterebene' bis zur ‚psychologischen Bedeutungsebene' besonders im episodischen Gedächtnis etablierter ... Bestandteil der Persönlichkeit" (Böning 2000, S. 283).
Resümee: Was "Suchtgedächtnis" definitorisch überhaupt bedeuten soll, ist unbestimmt. Mit anderen Worten: Durch die Variabilität und Breite der vorliegenden Umschreibungen von "Suchtgedächtnis" bleibt von Anfang an unklar, von was überhaupt die Rede sein soll.

2. Woran kann man das "Suchtgedächtnis" genau erkennen bzw. wie kann man es "dingfest" machen ? (Operationalisierung)
Mit "Operationalisierung" ist gemeint: Aus welchen intersubjektiv beobachtbaren Merkmalen kann darauf geschlossen werden, dass ein "Suchtgedächtnis" vorliegt. Anders gesagt: Was muss jemand genau tun oder unterlassen, um daraus schließen zu können, dass er ein "Suchtgedächtnis" hat.
Auch in diesem Punkt bleiben die Aussagen über "Suchtgedächtnis" unklar. Tretter (2000) etwa meint, dass das Suchtgedächtnis für Gedächtnisinhalte stehe, und zwar für die folgenden: "Gespeichert werden kann ... die Reizkonstellation (‚Wie sieht die Substanz aus?'), der Konsum-Effekt (‚Was bringt die Substanz?'), das Verhaltensmuster der Drogenakquisition ("Wie kommt man ran?'), der Verhaltenseffekt ("Was bringt der Konsum?'), die ‚Reflexion' (‚Wie steh ich zur Droge?') und/oder alles zusammen" (S. 279). Eine durchaus richtige Feststellung: Dies alles (und noch viel mehr) kann man in Zusammenhang mit psychotropen Substanzen speichern. Nur: Dass man sich an Vergangenes erinnern kann, ist trivial und zeugt lediglich von mangelndem Gedächtnisschwund - belegt aber nicht, dass es ein einheitliches "Suchtgedächtnis" gebe. Entsprechend äußern sich auch Wolffgramm und Heyne (2000): Die "Konsequenz dieser Gedächtnisbildung ist aber nicht die Etablierung einer Sucht ..." (S. 284).

3. Wie lässt sich das "Suchtgedächtnis" messen?
Eine empirische Erfassung des sog. "Suchtgedächtnisses" mittels eines (nachweislich konstruktvaliden) Messinstrumentes ist Voraussetzung für empirisch gehaltvolle Aussagen zur Bedeutung eines postulierten "Suchtgedächtnisses".
Über ein entsprechendes Messinstrument ist aber nichts zu lesen. Mit anderen Worten: Es wird beim Reden über "Suchtgedächtnis" mit gewichtigen Worten ins Ungefähre geblickt - über eine unterstellte Sache, die niemand empirisch erfasst hat.

4. Hat das "Suchtgedächtnis" Vorhersagewert? (prognostische Validität)
In den vorliegenden Veröffentlichungen wird in vager Form ein Vorhersagewert des "Suchtgedächtnisses" beansprucht. So wird etwa behauptet, das "Suchtgedächtnis" sei "Schrittmacher eines späteren Rückfalls" (Böning 1994, S. 244). Auch in diesem Aspekt ist ein Mangel an wissenschaftlicher Ausgereiftheit zu konstatieren:

  • Die vagen Vorhersagen werden nicht in wissenschaftlich prüfbare, präzise Aussagen überführt, wie es etwa in folgender Formulierung der Fall wäre: "Das Vorhandensein eines Suchtgedächtniswertes größer als x sagt voraus, dass keiner alkoholabhängigen Personen im Folgejahr nach einer Behandlung zum kontrollierten Trinken kontrolliertes Trinken gelingt."
  • Zur Prüfung derartiger Vorhersagen wäre es nötig, die Ausprägung des "Suchtgedächtnisses" als unabhängige Variable zu formulieren, zu erfassen und zu messen. Als abhängige Variablen wären die postulierten Folgen der Auswirkung des "Suchtgedächtnisses" zu prüfen (etwa: Zeitpunkt bis zum ersten Rückfall, Praktizieren von kontrolliertem Trinken etc.). Dies wird jedoch nicht getan.
  • Im übrigen: Die bei "alkoholabhängigen" Ratten durchgeführten Tierexperimente von Wolffgramm und Heyne zeigen, dass ein Teil der "alkoholabhängigen" Ratten zu einer mäßigen, nicht "kontrollverlustartigen" und nicht abhängigen Alkoholaufnahme übergeht.
  • Last but not least: Bereits auf einer theoretischen Ebene sind Zweifel am Vorhersagewert eines "Suchtgedächtnisses" angebracht. Denn selbst wenn es so etwas wie Erinnerungsinhalte in Form eines "Suchtgedächtnisses" gäbe, stellt sich die Frage: Weshalb sollten diese Erinnerungsinhalte überhaupt vorhersagen, dass sich jemand entsprechend seiner Vergangenheit verhält? Viele Dinge tun wir doch gerade deshalb nicht (z.B. wieder die gleiche Partei wählen), weil wir sie erinnern. Bereits auf der Plausibilitätsebene sind also Vorbehalte gegen "suchtgedächtnis"-bezogene Prognosen angebracht.
5. Wie sollte das sog. "Suchtgedächtnis" veränderbar sein? Im positiven Falle: Warum sollte aufgrund eines "Suchtgedächtnisses" nur Abstinenz, aber kein symptomfreier Konsum möglich sein?
Wenn "Suchtgedächtnis" als molekular-neuronal-psychologisch verankerter "Bestandteil der Persönlichkeit" (Böning 2000, S. 283) verstanden wird, so taucht die skeptische Frage auf, wie denn ein so fest verwurzeltes Persönlichkeitsmerkmal überhaupt veränderbar sein soll? Mit anderen Worten: Weshalb sollte es auch nur einer einzigen alkoholabhängigen Person möglich sein, ihren abhängigen Alkoholkonsum zu überwinden? Hunderttausende von Menschen, die ihre Abhängigkeit durch Abstinenz überwunden haben, lehren allerdings, dass es doch Aus- und Schleichwege aus der Sucht gibt, und auch die Rückprägungsexperimente von Wolffgramm und Heyne deuten in diese Richtung.
Wenn nun aber eine Überwindung der Abhängigkeit ganz offensichtlich möglich ist, dann fehlt eine hinreichende Erklärung dafür, weshalb diese Überwindung nicht in Richtung eines kontrollierten Konsummusters erfolgen könnte. Mit anderen Worten: Die Annahme eines "Suchtgedächtnisses" lässt alle Richtungen einer Veränderung offen. Somit erweist sich - lange Rede, kurzer Sinn - ein "Suchtgedächtnis" bereits aus theoretischen Gründen gar nicht als Hinderungsgrund für kontrollierten Trinkens.

"Suchtgedächtnis": Resümee
Die Veröffentlichungen zum "Suchtgedächtnis" zeichnen sich durch einen hohen Erklärungsanspruch aus und erweisen sich letztlich doch als abenteuerliche Metaphysik. Ein abschließendes Zitat soll dies nochmals verdeutlichen: "Wie aber letztlich in den postulierten autoregulativen kybernetischen Schleifen und komparativen Interaktionssystemen das in physikalisch-chemischen Strukturen molekular programmierte ‚Suchtleben' zur symbolischen Repräsentation inhaltlich-intentionalen ‚Erlebens' desselben wird, bleibt weiterhin ein Geheimnis." (Böning 1994, S. 249). Wie wahr! Anspruch und Wirklichkeit klaffen beim Reden über "Suchtgedächtnis" weit auseinander. Der begangene Kategorienfehler - von biologischen Phänomenen schnurstracks auf psychologische zu schließen - wird nicht wahrgenommen. Das Reden über molekulare Abläufe ("programmiert") und über Freiheit des Entscheidens/Handelns entstammen aber unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven - keine geht in der anderen auf. "Das Gehirn nämlich kann gar nichts entscheiden, die Idee des Entscheidens hat keinen logischen Ort in der Rede übers Gehirn. Entscheidungen im eigentlichen Sinne gibt es nur, wo von Gründen und Überlegen die Rede sein kann. Es ist ein Fehler, in die Rede über Hirn einen Begriff wie ‚entscheiden' aus der Sprache des Geistes einzuschmuggeln" (Bieri 2005, S. 125).
Die Idee eines "Suchtgedächtnisses" ist im Moment weit davon entfernt, den Status eines brauchbaren wissenschaftlichen Konstruktes einzunehmen. Hinter der rhetorischen Bühne andeutungsreicher Aneinanderreihungen hirnphysiologischer, neurobiologischer und psychologischer Begrifflichkeiten - vergleiche das Zitat zuvor - ist ein großes Verstehens-, Erklärungs- und Prognosedefizit erkennbar.
Vor allem aber: "Suchtgedächtnis" eignet sich nicht, die Unmöglichkeit eines kontrollierten Alkoholkonsums bei Alkoholabhängigen theoretisch und/oder empirisch zu belegen. Von den drei vorgestellten Krankheitsmodellen der Sucht steht somit nur das dispositionelle in Widerspruch zu der Aussage, dass auch einem Teil alkoholabhängiger Menschen kontrolliertes Trinken möglich ist.


2. Kontrolliertes Trinken

Von "kontrolliertem Trinken" war in den vorherigen Abschnitten immer wieder die Rede. Es ist nun an der Zeit, diesen Begriff genauer zu fassen.
Von "(selbst)kontrolliertem Trinken" ist zu sprechen, wenn eine Person ihr Trinkverhalten an einem zuvor festgelegten Trinkplan bzw. Trinkregeln ausrichtet (vgl. genauer unter www.kontrolliertes-trinken.de). Kontrolliertes Trinken bezeichnet also einen disziplinierten, geplanten und limitierten Alkoholkonsum.
In internationalen Programmen ist es üblich, einen derartigen Trinkplan jeweils für eine Woche im voraus aufzustellen und dabei folgende Festlegungen vorzunehmen:

  • Anzahl alkoholfreier Tage
  • maximale Konsummenge an Trinktagen
  • maximaler Gesamtkonsum in der ganzen Woche
Neben der Alkoholmenge können in einem Wochenplan je nach individuellem Bedarf auch Rahmenbedingungen des Konsums festgelegt werden, wie etwa:

  • Trinkzeit (z.B. erst nach 18 Uhr)
  • Trinkort (z.B. nicht zuhause)
  • soziales Umfeld (z.B. nicht mit alten "Trinkfreunden")
  • eigenes Befinden (z.B. nicht zur Selbstbehandlung depressiver Phasen)
  • Getränkereihenfolge (z.B. vor jedem alkoholischen ein großes nichtalkoholisches Getränk trinken)
  • Trinkgeschwindigkeit (z.B. nicht mehr als 8-10g Ethanol pro Stunde konsumieren, so dass Alkoholaufnahme und -abbau sich die Waage halten).
Es liegen inzwischen auch im deutschsprachigen Raum sowohl Selbstlernprogramme (wie das "10-Schritte-Programm zum selbstständigen Erlernen des kontrollierten Trinkens", Körkel 2003) als auch therapeutisch begleitete Einzel- und Gruppenprogramme (wie das EkT ["Ambulantes Einzelprogramm zum kontrollierten Trinken", Gehring & Projektgruppe kT 2003] und AkT ["Ambulantes Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken", Körkel & Projektgruppe kT 2001]) zum Erlernen des kontrollierten Trinkens vor (Übersicht in Körkel 2002). Abbildung 2 gibt einen Überblick über Charakteristika und Unterschiede der Programmtypen.

Abbildung 2

Bei derartigen Selbstkontroll- bzw. Selbstmanagementprogrammen (Behavioral Self-Control Trainings, BSCT) handelt es sich um strukturierte, verhaltenstherapeutisch angelegte Programme, in denen es um die in Abbildung 3 aufgeführten Inhalte geht.

Abbildung 3

Zur aktiven Erarbeitung aller Inhalte werden den Klienten didaktisch aufbereitete Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Dazu gehören Trink-Tagebücher, Blätter zur wöchentlichen Zielfestlegung, Checklisten mit Risikosituationen des Zuviel-Trinkens, Checklisten mit Strategien zur Zielerreichung u.v.a.m. Abbildung 4 zeigt exemplarisch eines dieser Hilfsmittel, das täglich zu führende Pocket-Trinktagebuch in Jackentaschenformat.

Abbildung 4

Qualitativ hochwertige wissenschaftliche Studien zu den Effekten derartiger Programme liegen seit über 30 Jahren vor ("Keine andere Behandlungsmethode für Problemtrinker ist derart sorgfältigen Analysen unterzogen worden" [Miller 1983, S. 75; vgl. ebenso Apodaca & Miller 2003]). Die Ergebnisse dieser Forschung besagen, dass Programme zur systematischen Konsumkontrolle - auch bei Alkoholabhängigen - Erfolgsquoten von durchschnittlich 65% erreichen, wobei die Trinkmengenreduktion im Mittel 50% beträgt (vgl. Körkel, 2002; Miller 1983). Die Erfolge bestehen nicht nur in einer nachhaltigen Trinkmengenreduktion bzw. Förderung der Abstinenz, sondern auch der Verminderung alkoholassoziierter Probleme (z.B. Ängste und Depressionen) sowie Steigerung von Selbstwertgefühl und Lebensqualität (vgl. Alden 1988; Apodaca & Miller 2003; Hester 2003; Rosenberg 1993). Langzeitstudien demonstrieren, dass kontrolliertes Trinken auch über Jahre hinweg erfolgreich aufrecht erhalten werden kann bzw. ein Teil der Teilnehmer freiwillig und aus eigener Erkenntnis zum Ziel der Abstinenz wechselt (vgl. Saladin & Santa Ana, 2004; Walters, 2000).

In etwa diese Ergebnislage ergibt sich in einer 1-Jahres-Nacherhebung der ersten fünf in Nürnberg durchgeführten Gruppen des "Ambulanten Gruppenprogramms zum kontrollierten Trinken" (vgl. Abbildung 5 sowie Körkel 2004): 8% der Teilnehmer leben abstinent und 50% haben ihren Alkoholkonsum deutlich reduziert (25% um mehr als 50% ihrer zu Beginn des AkT vorhandenen Trinkmenge, 19% weisen eine Trinkmengenreduktion zwischen 30% und 50% und 6% zwischen 10% und 30% auf). "Schwere Trinker" mit mindestens 800 Gramm Alkohol/Woche vor Programmbeginn - das entspricht mindestens 40 Flaschen Bier (à 0,5 l) bzw. 40 Gläsern Wein (à 0,2 l) bzw. mehr als dreieinhalb Flaschen Schnaps (à 0,7 l) pro Woche - schneiden besser ab als Personen mit geringerem Konsum (< 800g/Woche), Alkoholabhängige besser als Alkoholmissbraucher und Männer besser als Frauen.

Abbildung 5

Eine klare Grenze, ab der kontrollierter Konsum absolut unmöglich wäre, gibt es nach bisherigen Studien nicht. So ist es etwa auch einem Teil chronisch alkoholabhängiger Wohnungsloser möglich, zu einem mäßigen Alkoholkonsum überzugehen (vgl. Körkel, Gehring, König & Drinkmann, 2005). Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass "es durchaus möglich (wenn nicht wahrscheinlich) ist, dass ein moderates Trinkverhalten für einige Alkoholkonsumenten eine permanente Unmöglichkeit darstellt, wohingegen es für andere erreichbar ist" (Miller 1983).
Summa summarum fallen die Effekte von Reduktionsprogramme mindestens so positiv wie die von Abstinenzprogrammen aus (Walters 2000), so dass eine Erweiterung der Behandlungspalette um Kontrollprogramme geboten erscheint (Miller, Andrews, Wilbourne & Bennett 1998).

3. Willens- und Handlungsfreiheit

Nach den zuvor ausgeführten wissenschaftlichen Belegen bedürfte es keiner weiteren Ausführungen über Willens- und Handlungsfreiheit im Kontext des Trinkverhaltens Alkoholabhängiger - denn diese Frage ist bereits, und zwar wie folgt, beantwortet: Alkoholabhängige sind - außer im Zustand starker Intoxikation oder bei fortgeschrittenem hirnorganischem Abbau - in der Lage, für sich zu entscheiden, was sie wollen (hier: Alkohol in reduzierter Form weiterzutrinken) und ein Teil von ihnen kann das Gewollte erfolgreich in die Tat umsetzen, das heißt hier einen kontrollierten Konsumstil erlernen und beibehalten (so wie einem Teil der Alkoholabhängigen ein Übergang zur lebenslangen Alkoholabstinenz gelingt). Sie besitzen in diesem Sinne Willens- und Handlungsfreiheit. Offensichtlich sind sie nicht biologisch determiniert, nach einem ersten Quantum Alkohol weitertrinken zu müssen ("Kontrollverlust").

Die Frage nach der Willens- und Handlungsfreiheit Alkoholabhängiger bleibt aber trotz der vorangegangenen Überlegungen sinnvoll. Wie erläutert, gelingt es nämlich keineswegs allen Alkoholabhängigen, sich einen kontrollierten Konsumstil anzueignen. Wie also kann man sich die Willens- und Handlungsfreiheit Alkoholabhängiger vor einer Behandlung vorstellen? Und welche Bedeutung kommt dann der Behandlung zur Förderung der Willens- und Handlungsfreiheit zu? Darum geht es in den folgenden Ausführungen. Sie widmen sich zunächst (in 3.1 und 3.2) grundsätzlichen Fragen zur Willens- und Handlungsfreiheit und sodann (in 3.3.) ihrer Anwendung auf die Behandlung des Alkoholismus.

3.1 Willensfreiheit als verhaltensbeeinflussendes Merkmal

"Willensfreiheit" ist seit Jahrtausenden Gegenstand des Räsonierens, vor allem in der Philosophie, neuerdings vermehrt auch in Psychologie und Neurobiologie (vgl. Lukas 2004). Bis heute wird äußerst kontrovers diskutiert, ob und wann man Willensfreiheit bei Menschen unterstellen kann, welche Konsequenzen (z.B. strafrechtlicher Art) sich daraus ergeben, wann die Willensfreiheit als eingeschränkt zu betrachten ist usw.
Diese große philosophische Debatte kann, muss und soll hier nicht aufgegriffen werden. Es reicht an dieser Stelle, sich der psychologischen Implikationen einer unterstellten Willens- und Handlungsfreiheit klar zu werden, nämlich: Willens- und Handlungsfreiheit ist faktischer Bestandteil unserer wahrgenommenen psychischen und sozialen Realität und Identität. Wir leben in dem Bewusstsein, uns so oder anders entscheiden zu können und Handlungsspielräume zu besitzen (Graumann 1994; von Cranach & Foppa 1996). Wir unterstellen also im Regelfall bei uns und unseren Mitmenschen Willens- und Handlungsfreiheit und verhalten uns dementsprechend. So wird zum Beispiel jemand zur Verantwortung gezogen, der mit über 0,5 Promille Blutalkoholkonzentration ein Kraftfahrzeug fährt, weil er es hätte unterlassen können.


3.2 Voraussetzungen von Willens-/Handlungsfreiheit

Nach Tugendhat (1987; vgl. auch Bieri 2001) unterstellen wir bei einer Person dann Willens- und Handlungsfreiheit,

  • wenn es ihr zuzurechnen ist, dass etwas passiert oder nicht passiert ist und
  • wenn sie hätte anders handeln können, d.h. wenn sie äußere und innere Autonomie hatte.
"Äußere Autonomie" bedeutet, dass die Person nicht durch äußere Bedingungen daran gehindert wird, das zu tun, was sie tun möchte bzw. nicht dazu gezwungen wird etwas zu tun, was sie nicht tun möchte. Wenn wir davon ausgehen, dass in diesem Bereich nicht die zentralen Probleme bei Suchtmittelabhängigkeit liegen, können wir uns auf die "innere Autonomie" konzentrieren.

"Innere Autonomie" liegt vor, wenn die Person fähig ist das zu tun, was sie für das Beste hält. Das impliziert:

  • Die Person hat die Fähigkeit zu überlegen.
  • Die Person hat die Fähigkeit, das Ergebnis ihrer Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen (sie ist in der Lage, das, was sie "wirklich" will, auch zu tun).
Was bedeutet dies für die Behandlung der Suchtmittelabhängigkeit?

3.3 Willens-/Handlungsfreiheit als Gegenstand von Suchtbehandlung

Beide Komponenten der inneren Autonomie - zu wissen, was man "wirklich" will und das Gewollte in die Tat umzusetzen - können bei Süchtigen beeinträchtigt sein. Die Förderung bzw. Wiederherstellung der Autonomie sollte deshalb - auf einer allgemeinen Ebene betrachtet - Aufgabe von Suchtbehandlung sein. Genauer besehen, sollte es in einer Suchtbehandlung - ob abstinenz- oder reduktionsorientiert - darum gehen, auch bei der Frage des Konsumziels (Abstinenz oder kontrolliertes Trinken) dem Klienten zu verhelfen herauszufinden

  • was er "wirklich" will und
  • ob und wie er das Gewollte umsetzen kann.
In welcher Weise dient nun eine Behandlung, die das Ziel des kontrollierten Trinkens adressiert, der Autonomieerweiterung? (Vgl. dazu Abbildung 6).

Abbildung 6
  • Eine derartige Behandlung kann erstens die Fähigkeit einer Person zu überlegen, ob sie sich für kontrolliertes Trinken oder Abstinenz als Veränderungsziel entscheiden möchte, stärken (was überflüssig wäre, wenn ein derartiges Räsonieren, was man "eigentlich" will, bereits hinreichend stattgefunden hat bzw. die Person in der Lage ist, dies alleine hinreichend zu tun). Gemeint ist hier die Fähigkeit zu wissen, welche Gründe für, aber auch gegen kontrolliertes Trinken resp. Abstinenz sprechen und wie diese Gründe bei einem selbst zu gewichten sind. Kurz gesagt: Die Entscheidung des Klienten für den zukünftigen Umgang mit dem Suchtmittel (kontrolliertes Trinken oder Abstinenz?) soll optimiert werden. Dies heißt ausdrücklich auch, stets die Abstinenz ins Gespräch zu bringen und deren Vorzüge (und Nachteile)zu erörtern, statt willfährig und unreflektiert der ersten Zieläußerung des Klienten pro kontrolliertes Trinken zu folgen. Die Methode der Wahl zur Stärkung dieser Fähigkeit herauszufinden, wie man seinen zukünftigen Alkoholkonsum gestalten will, ist die des Motivational Interviewing, Phase 2 (Körkel & Veltrup 2003; Miller & Rollnick 2002).
    In allgemeiner Weise hat Lieb (1994) diese erste Zielsetzung einer autonomiefördernden Behandlung treffend charakterisiert. Demnach ist es ethische Verpflichtung von Suchtbehandlung, dem Klienten kein Konsumziel vorzusetzen, sondern seine Entscheidung für Abstinenz oder kontrolliertes Trinken zu fördern (Entscheidung vor Inhalt der Entscheidung) - also "diesen Entscheidungsprozeß in der Therapie und nicht gegen sie zu absolvieren" (S. 114f).
  • Durch eine Behandlung mit dem selbst gewählten Ziel des kontrollierten Konsums soll zweitens die Fähigkeit einer Person gestärkt werden, ihr Ziel des kontrollierten Trinkens auch tatsächlich praktizieren zu können. Wirksame Methoden zur Stärkung dieser "Könnenskraft" (Siegfried Scharrer) sind - wie oben gezeigt - die des Behavioral Self-Control Trainings (BSCT).
    Diese "Könnenskraft" ist in der Frage des kontrollierten Trinkens zuweilen das Umstrittene: Können Alkoholabhängige durch eine Therapie bzw. ein Programm zum kontrollierten Trinken in die Lage versetzt werden, ihren persönlichen Kontrollplan gegen Impulse des unkontrollierten Trinkens abzuschirmen? Wie oben ausgeführt, ist dies einem Teil der Alkoholabhängigen möglich. Unter willenstheoretischer Perspektive kann das Ergebnisse einer Behandlung mit dem Ziel des kontrollierten Trinkens so oder so von Nutzen sein:
    • Sofern der Klient kontrolliertes Trinken erfolgreich erlernt, werden seine Könnenskraft und somit seine innere Autonomie gestärkt.
    • Wenn es dem Klienten nicht gelingt, sich erfolgreiches kontrolliertes Trinken anzueignen ("das geht bei mir nicht") oder er feststellt, dass er es letztlich doch nicht will ("zu anstrengend"), kann dies ebenfalls einen Erfolg darstellen: Der Klient kann nun zu der neuen, autonomen Entscheidung vordringen, dass für ihn Abstinenz das wünschenswertere Ziel darstellt. Mit anderen Worten: Seine Entscheidungsfähigkeit herauszufinden, was er "wirklich" will, ist gestärkt worden. Bei ca. 10-30% der Klienten, die an einem Kontrollprogramm teilnehmen, wird diese Entscheidung in Richtung Abstinenz beeinflusst: Sie entscheiden sich für den gänzlichen Abstand von Alkohol (vgl. z.B. Hodgins, Leigh, Milne & Gerrish 1997; Miller 1983).

4. Resümee

Die vorherigen Ausführungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass Alkoholabhängige nicht biologisch determiniert sind, ihr Alkoholproblem nur durch Abstinenz bewältigen zu können. Im übrigen ist die unterstellte Abstinenzfähigkeit Alkoholabhängiger nicht ohne Widersprüchlichkeit: "[So] heißt es, es handle sich um eine Krankheitseinheit, die durch Kontrollverlust, also durch die Einbuße innerer Freiheit bis zu völliger Abhängigkeit und Hilflosigkeit, bestimmt sei. Doch dann wird im Handumdrehen von den Kranken verlangt, dass sie auf ihre krankhaften Handlungen und Haltungen willentlich verzichten, um allein so der Vorteile der angebotenen Behandlung teilhaftig werden zu können" (Wurmser 1990, S. 765). Ganz in diesem Sinne formuliert Fingarette (1988): "Wenn das Leiden des Alkoholikers eine Krankheit ist, die eine Unfähigkeit verursacht, sich des Trinkens zu enthalten, wie kann dann ein Programm auf freiwilliger Abstinenz als Vorbedingung für die Behandlung bestehen?" (S. 74).

Nach der hier ausgeführten Position besitzen Alkoholabhängige die Entscheidungsfreiheit, sich mit guten Gründen für kontrollierten Alkoholkonsum (oder Abstinenz) entscheiden und die Handlungsfreiheit, ihre Entscheidung in die Tat umsetzen zu können. Alkoholabhängige demgegenüber als Opfer einer neurobiologischen Maschinerie zu verstehen, durch die nach einem ersten Quantum Alkoholkonsum der Kontrollverlust schon vorprogrammiert wäre, steht in Widerspruch zu den wissenschaftlichen Fakten und erweist sich als Mythos. "Neurobiologische Entdeckungen können Willensfreiheit nicht als Illusion entlarven. Wenn sie etwas entlarven, dann nur metaphysische Missverständnisse von Freiheit" (Bieri 2005, S. 125).

Auf der anderen Seite ist es keineswegs garantiert, dass jeder alkoholabhängigen Person ein kontrollierter Alkoholkonsum möglich wäre. Suchtbehandlung kommt hier die Aufgabe zu, in einem "herrschaftsfreien Diskurs" zur Selbstklärung des Konsumenten und Förderung seiner "Könnenskraft" beizutragen. Das bedeutet, dass der Konsument

  • sich nach Abwägung aller sinnvollerweise anzustellenden Überlegungen darüber klar wird, wie er seinen zukünftigen Umgang mit Alkohol gestalten will (reduziert weiter trinken, abstinent leben etc.)
  • sich mit Hilfe evidenzbasierter Methoden die Fähigkeit aneignet, das von ihm Gewollte (z.B. abstinent zu leben oder kontrolliert zu trinken) zu erreichen.
Am Ende dieser Überlegungen steht das Gesamtresümee, dass kontrollierter Alkoholkonsum eine notwendige Zieloption für Menschen mit Alkoholproblemen unterschiedlichen Schweregrades darstellt, die bei einem Teil von ihnen mit Erfolg umgesetzt werden kann.

Literaturangabe für diesen Beitrag:

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